Scham als kreative Kraft integrieren
Im dritten Teil der Trilogie über Scham als kreative Kraft im Wandel richtet sich der Fokus auf die Kraft und das Potenzial unserer menschlichen Verletzlichkeit. Wenn wir diese Seite von uns integrieren, kann unser Potenzial als gestaltende und selbstbestimmte Wesen sichtbar werden. Oder, wie es die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Brené Brown auf Grundlage ihren Forschungen zur Kreativität und Transformation formuliert:
„Verletzlichkeit ist der eigentliche Herzschlag von Innovation und Kreativität. Ohne Verletzlichkeit gibt es keine Innovation. Und Mut finden wir nur, wenn wir durch unsere Verletzlichkeit hindurchgehen.“ (B. Brown, 2015)
Scham berührt genau diese verletzliche Dimension unseres Menschseins – und im Folgenden wird deutlich,
- Warum wir Scham in Veränderungsprozessen einen würdevollen Raum einräumen sollten.
- Wie wir Scham erkennen und achtsam in den Raum einladen können.
- Wie wir Scham transformieren – und damit kreatives Potenzial freisetzen können.
Hatties inspirierende Mindframes für Lehrkräfte bieten dabei ein aufschlussreiches Beispiel, dafür dass Haltungswandel weit mehr umfasst, als auf Leitsätze zu orientieren. Für eine nachhaltige Integration braucht es innere Veränderungen – vor allem auf emotionaler Ebene.
Dieser praxisorientierte dritte Teil richtet den Blick deshalb sowohl auf die eigene Verletzlichkeit und die eigene Schamgeschichte als auch auf die Möglichkeiten, andere mit Schambewussstsein professionell zu begleiten – als Lehrkraft, als Schulleitung oder auch als Prozessbegleitung.
Bevor wir tiefer einsteigen, beginnen wir mit einem Bild.
Scham halten und transformieren – das Glas in uns
Stellen wir uns unsere Fähigkeit, Scham bewusst wahrzunehmen und halten zu können, als ein Glas vor. Das leere Glas steht für unsere grundlegende Kapazität, Scham wahrzunehmen und unsere Handlungsfreiheit dabei zu bewahren. Diese Metapher lehnt sich an ein Bild aus Salman Rushdies Scham und Schande (2019) an, indem er Scham als Gefäß beschreibt, dass durch Beschämungen gefüllt wird.
Wenn in uns Scham auftaucht, beginnt sich dieses Gefäß zu füllen. Solange das Gefühl innerhalb des Glases bleibt, können wir damit umgehen: Wir bleiben präsent, ansprechbar und handlungsfähig. Sobald jedoch das Glas überläuft, verlieren wir unsere Mitte. Dann greifen weder rationales Denken noch bewusster Wille. Stattdessen fallen wir in unsere Überlebensreaktionen zurück – in Muster, die evolutionär sehr früh in uns angelegt wurden: Erstarren, Flucht oder Angriff. In diesen Momenten fühlen wir uns existenziell bedroht und reagieren reflexhaft.
Wenn ich im Folgenden von Schamkompetenz spreche, geht es genau darum: Die Fähigkeit sein eigenes Gefäß der Scham bewusst im Blick halten zu können. Sich selbst wahrnehmen zu können, wann es sich füllt – und zu wissen wie dafür gesorgt werden kann können, dass Scham wieder abfließen kann, ohne mich selbst zu überfluten. Mit der Zeit kann dann sogar die Größe des Gefäßes durch mich erweitert werden: meine Fähigkeit, starke Gefühle zu halten.
Bei manchen Menschen ist dieses Glas von Natur aus oder durch Lebenserfahrung bereits groß. Bei anderen ist es kleiner, weil der Umgang mit intensiven Gefühlen – nicht nur mit Scham – nie gelernt wurde. Wichtig ist: Der Umgang mit Scham ist lernbar.

Da Scham in unserer Kultur tabuisiert und instrumentalisiert wird, lernen die wenigsten Menschen, ihr Gefäß der Scham im Blick zu halten. Stattdessen haben sie gelernt, Scham zu verstecken, um sie nicht spüren zu müssen. Viele Verhaltensweisen wie spontaner Zorn, jemanden Auslachen, aber auch Verstummen und sich zurückziehen sind häufig dann die Anzeichen dafür, dass ein Mensch seine Scham gerade versteckt. Sobald Menschen an ihre Scham kommen, nehmen sie diese nicht mehr wahr, sondern wehren sich automatisch ab. So wird Lernen und Wachsen verhindert. Und auch im Außen wird sie nicht sichtbar und das Verhalten mitunter „nur“ als Trotz, Widerstand oder Ignoranz interpretiert.
Überall, wo Menschen in Beziehung gehen, kann Scham als der „soziale Akt“ auftauchen. Denn Scham reguliert unsere sozialen Interaktionen, so der Psychoanalytiker Serge Tisseron (2000). Das bedeutet für uns als Begleitende von Lern-, Projekt und Transformationsprozessen, sich dieses inneren Gefäßes bewusst zu sein – sowohl bei uns selbst als auch bei anderen. Denn Veränderungsprozesse sind immer ein Kontakt mit Unsicherheit, Sichtbarkeit und Verletzlichkeit. Scham wird dabei fast unvermeidlich auftauchen. Umso wichtiger ist es, in solchen Momenten den Gefühlen einen Raum zu geben, in dem sie gehalten und abfließen können, sodass Scham bewusst erlebt werden kann, ohne das Bewusstsein zu überfluten.
Scham in der Transformationsarbeit
Wenn wir Lernprozesse oder größere Transformationsvorhaben gestalten, konzentrieren wir uns oft auf das, was sichtbar ist: neue Methoden, neue Strukturen, neue Konzepte, neue Mindsets. Doch eine Ebene wird dabei selten berührt – die emotionale. Und so bleibt auch die Scham wirksam, oft unsichtbar, aber handlungsleitend.
Gerade der Umgang mit Emotionen – und besonders mit Scham – entscheidet darüber, ob ein Veränderungsprozess nachhaltig wird. Oder ob auf Euphorie die Ernüchterung folgt und der Prozess zäh, widersprüchlich oder sogar scheitern wird.
Denn alten Gewohnheiten und Überzeugen verschwinden nicht einfach, sobald eine neue Idee erscheint. Sie sind mit unseren persönlichen und kulturellen Erfahrungen verknüpft und kehren immer wieder zurück – besonders in Stressmomenten, wenn Unsicherheiten oder Konflikte auftreten, wenn wir verletzlich werden.
Um zu verdeutlichen, wie eng emotionale Sicherheit und Veränderungsarbeit miteinander verbunden sind, lohnt ein Blick auf John Hatties Konzept der „Mindframes for Visible Learning“.
Mindframes – Haltungen, die Lernerfolg ermöglichen
Der australische Bildungsforscher John Hattie beschreibt zehn Mindframes – innere Ausrichtungen, die Lehrkräften helfen sollen, ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Lernen wirklich stärkt: Beziehung, Dialog, wertschätzendes Feedback, Kollaboration, Potenzialentwicklung und eine Kultur, in der Fehler Lernchancen sind.
Sie sind eine Abkehr vom hierarchisch-kontrollierenden Unterricht der Vergangenheit. Besonders der Umgang mit Feedback bekommt dabei eine zentrale Rolle:
Feedback hat große Wirkung – zugleich ist seine Wirkung äußerst unterschiedlich.“(J. Hattie, 2019)
Doch genau an dieser Stelle zeigt sich, wie verletzlich Lern- und Veränderungsprozesse sind.
Die Fehlerkultur der Schule: Scham statt Vertrauen
Eine vertrauensvolle Beziehung entsteht nicht allein dadurch, dass Feedback eingeholt wird. Wenn die emotionale Ebene nicht mitgedacht wird, bleiben Mindframes Vorsätze – gut gemeint, aber nicht verankert. Denn im System Schule ist der Umgang mit Fehlern seit Generationen mit Scham verbunden:
- Scham, etwas nicht zu wissen.
- Scham, beobachtet zu werden.
- Scham, Fehler zu machen.
Diese Dynamik betrifft Lernende und Lehrkräfte gleichermaßen. Viele haben Botschaften verinnerlicht wie:
- „Fehler vermeiden.“
- „Ein Fehler zeigt, dass mit mir etwas nicht stimmt.“
- „Ich werde bewertet.“
Wenn beide Seiten mit diesen Mustern aufeinandertreffen, verzerrt Angst das Feedback. Selbstschutz tritt an die Stelle von Resonanz – und genau dadurch verliert Feedback seine Wirksamkeit.
Ohne Schambewusstsein keine nachhaltige Veränderung
Hattie selbst weißt nachdrücklich darauf hin, dass Feedback nur in einer geschützten Atmosphäre Wirkung entfalten kann, in einem „Umfeld, in dem Vertrauen hoch und Stress und Anspannung möglichst gering ist“ (Hattie, 2019).
Und hier wird deutlich: Wenn wir die emotionale Dimension bei Haltungsänderungen ausblenden, bleibt der Wandel brüchig.
Schule ist für viele kein Raum von emotionaler Sicherheit. Über Generationen hinweg wurden Muster von Angst, Scham und Beschämung weitergegeben – oft unbewusst. Solange diese Muster nicht in den Blick genommen werden, bleibt jede Veränderung fragil. In ruhigen Zeiten funktionieren neue Vorsätze. Doch unter Stress kehren die alten Reaktionen zurück.
Dann macht sich bemerkbar, was nicht betrachtet wurde:
die Angst vor Fehlern, die Vermeidungsstrategien, die Abwehr von Unsicherheit.
Die Folge ist ein Wandel, der äußerlich sichtbar ist, aber innerlich keine Tiefe gewinnt:
- Wir führen Dialoge – aber ohne echte Resonanz.
- Wir holen Feedback ein – aber lassen es nicht wirklich an uns heran.
- Wir suchen Herausforderungen – aber meiden das Risiko, uns zu zeigen.
- Wir arbeiten kollaborativ – aber ziehen uns bei Konflikten innerlich zurück.
- Wir sprechen über Fehler – aber nicht über unsere eigenen.
Ohne Schambewusstsein kann äußerer Wandel gelingen. Doch die alten Muster bleiben bestehen – als Rückzug, Perfektionismus, Überkompensation, Angriff oder Erstarren.
Veränderung braucht innere Sicherheit – und Verletzlichkeit
Lernen macht verletzlich. Veränderung ebenfalls.
Beide Prozesse fordern uns heraus, sichtbar zu werden.
Genau hier trifft sich pädagogische Forschung mit der Arbeit von Brené Brown:
Mut, Kreativität und echter Wandel entstehen nur dort, wo wir bereit sind, Verletzlichkeit zuzulassen.
Scham ist die Emotion, die diese Verletzlichkeit bedroht. Und ohne ein Verständnis dafür bleibt jede Veränderung an der Oberfläche.
Haltung verändert sich nur durch innere Arbeit
Transformationsprozesse sind Lernprozesse – und damit emotionale Prozesse.
Neue Konzepte sind wichtig, aber sie reichen nicht. Haltung verändert sich nicht durch Werkzeuge allein, sondern dadurch, dass wir unsere innere Geschichte in den Wandel integrieren.
Und diese innere Geschichte ist – individuell wie kulturell – häufig von Scham geprägt.
Wenn wir diese Ebene ausblenden, bleibt Transformation äußerlich und zerbricht an der emotionalen Wirklichkeit. Doch wenn wir beginnen, uns unserer Schamgeschichte behutsam zuzuwenden, entsteht ein anderer Weg:
Ein Weg, auf dem wir Scham nicht länger abwehren müssen, sondern lernen, ihr Schritt für Schritt Raum zu geben. Unser inneres Gefäß – unser Wasserglas – wird vertrauter und größer.
Und je mehr wir unsere eigene Scham wahrnehmen und halten können, desto mehr Fähigkeit entwickeln wir, auch andere sicher durch ihre Scham zu begleiten. Genau dort beginnt Schamkompetenz. Und genau dort entsteht ein Raum, in dem echter Wandel möglich wird.
Mein inneres Glas – Scham spüren, bevor sie überläuft
Scham ist eine leise, oft unsichtbare Begleiterin. Sie meldet sich selten direkt, sondern über Umwege – über Rückzug, Perfektionismus, Trotz, Kälte oder Überanpassung. Wir erkennen sie oft erst im Nachhinein, wenn wir spüren, dass wir „nicht mehr ganz bei uns“ waren.
Sich der eigenen Scham zuzuwenden, ist deshalb ein Weg der Annäherung.
Keine gerade Linie, kein Projekt, das wir „abarbeiten“ können.
Eher ein vorsichtiges Herantasten – an das, was uns verletzt hat und an das, was in uns nach Heilung sucht.
Stephan Marks (2021) spricht in diesem Zusammenhang von der „Arbeit an der eigenen Haltung“ – ein Weg, der uns in eine würdevollere Beziehung zu uns selbst führt. Es ist ein lohnendes Abenteuer, doch kein leichtes. Marks weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit Scham in unserer Kultur wenig verankert ist. Stattdessen dominieren Tabuisierung und Instrumentalisierung.
Bevor wir beginnen, unsere eigene Scham zu erkunden, lohnt es sich deshalb, drei Dinge zu bedenken:
- Wir haben viele Abwehrmechanismen verinnerlicht, weil das Zeigen von Gefühlen kulturell wenig unterstützt wird. Deshalb nehmen wir Scham oft zunächst kaum wahr.
- Da Scham tabuisiert ist, fehlen Räume der Sicherheit, in denen wir uns dem Gefühl im Beisein anderer nähern könnten.
- Scham ist schmerzhaft. Wenn sie nach langer Zeit auftaucht, kann das belastend sein – gerade, wenn sie bisher verdrängt wurde
In diesem Sinne ist ein Hinwenden zur eigenen Scham auch immer ein Berühren der eigenen Trauer: eine stille Anerkennung dessen, was war – und eine Einladung, die Bedürfnisse von damals heute würdevoll zu halten.
Scham und Trauer – die untrennbare Verbindung
Scham entsteht nie im luftleeren Raum. Sie taucht immer dann auf, wenn ein Grundbedürfnis verletzt wird: das Bedürfnis nach Anerkennung, nach Zugehörigkeit, nach Schutz oder nach Integrität. Wenn wir Scham wahrnehmen, berühren wir oft auch die Trauer, die darunter liegt.
Wir trauern dann – oft unbewusst – um etwas, das wir gebraucht hätten:
- um ein Wort der Anerkennung
- um einen Blick, der uns sieht
- um eine Grenze, die für uns gehalten worden wäre
- um ein Gefühl von Sicherheit oder Zugehörigkeit
Diese Trauer ist ein notwendiger Schritt. Sie ist der Weg zurück zu uns selbst.
Wenn wir beginnen, diese Bedürfnisse zu spüren – nicht, um anzuklagen, sondern um uns zu verstehen – verliert die Scham einen Teil ihrer Macht. Denn dann wird sichtbar, was wirklich verletzt wurde. Und wir können beginnen, uns das zu geben, was uns damals gefehlt hat. Sollte dabei die Auseinandersetzung mit der eigenen Scham zu herausfordernd werden oder der Zugang allein kaum gelingen, kann professionelle Unterstützung ein liebevoller und kraftvoller Schritt sein.
Im Folgenden möchte ich drei Annäherungsversuche vorstellen, die einladen, die eigene Scham zu erkunden – nicht im Sinne einer „Technik“, sondern als Einladung zu Trauer, Integration, Selbstannahme und innerer Würde.
1. Scham wahrnehmen – ohne sie sofort wegzudrücken
Der erste Schritt ist oft der unscheinbarste:
Bevor wir etwas verändern, müssen wir spüren, was in uns geschieht.
Scham taucht häufig in alltäglichen Momenten auf:
- wenn wir uns ertappt fühlen
- wenn wir im Gespräch plötzlich verstummen
- wenn ein Blick zu viel Nähe erzeugt
Wenn wir innehalten und uns unserem Körper zuwenden, bemerken wir vielleicht ein Brennen im Gesicht, ein Zusammenziehen im Bauch oder ein inneres Wegschrumpfen. Schon das ist ein wichtiger Kontakt. Er durchbricht das alte Muster der Abwehr – das Nicht-Spüren, Wegdrücken, Überspielen.
Ein Zugang kann auch darin bestehen, sich an eine frühere Situation zu erinnern, in der wir uns klein, übersehen oder ausgeschlossen fühlten. Fragen wie diese können helfen:
- Wie ging es mir damals?
- Was hätte dieses Kind in mir gebraucht?
- Welche Gefühle waren da – Traurigkeit, Erniedrigung, Ohnmacht?
So entsteht ein erster, behutsamer Kontakt – ohne Überflutung. Ein leiser Anfang.
2. Den inneren Richter entlassen – und in innere Führung verwandeln
Wenn wir Scham wahrnehmen können, tritt oft eine vertraute Stimme hervor: die Stimme, die urteilt, kritisiert und klein macht. Amanda und Krishnananda Trobe nennen diese Stimme in ihrem Buch Scham und Schock heilen (2018) den „inneren Richter“ – eine treffende Bezeichnung.
Der innere Richter entsteht früh, erklären sie, und erfüllt eine wichtige Funktion: Er schützt uns – vor Ausgrenzung, Bloßstellung und Liebesentzug. Er hilft uns, Regeln zu erkennen, Strukturen aufzubauen und richtig von falsch zu unterscheiden. Doch er entsteht aus den Wertvorstellungen und Ängsten derer, die uns geprägt haben.
Das Problem dabei:
Wir haben diese Stimme so verinnerlicht, dass wir ihre Urteile kaum noch erkennen – wir spüren nur ihre Folgen: Niedergeschlagenheit, Angst, sinkendes Selbstwertgefühl. Und wir glauben, wir seien so, wie das Urteil behauptet.
Der Wendepunkt entsteht, wenn wir beginnen, diesen inneren Richter als das zu sehen, was er ist:
ein altes Schutzprogramm. Nicht unser Feind, aber auch nicht mehr unser Kompass. In einem ruhigen Moment können wir – wie die Trobes vorschlagen – „umschalten“. Eine mögliche innere Antwort lautet:
„Danke, dass du mich beschützen wolltest. Aber heute gehe ich einen anderen Weg. Ich übernehme Verantwortung für mein Handeln – in Freundschaft mit mir selbst.“
Eine hilfreiche Übung, kann sein, einen Brief an die eigene innere Weisheit zu verfassen.
- Schreibe dir selbst einen Brief, als wärst du die liebevolle, weise Energie in dir.
- Schreibe so, als würdest du dich sehr gut kennen.
- Gib dir die Unterstützung, Liebe und Akzeptanz, die dir vielleicht früher gefehlt hat.
Indem wir dem inneren Richter mit Bewusstsein und Mitgefühl begegnen, verliert er an Härte – und wir gewinnen an innerer Autorität.
3. Scham und Schuld unterscheiden – und Verantwortung würdevoll übernehmen
Oft vermischen wir Scham mit Schuld. Diese Vermischung ist eine Quelle großer innerer Verwirrung.
Schuld bezieht sich auf eine Handlung.
Scham richtet sich gegen die ganze Person.
Schuld sagt:
„Ich habe etwas falsch gemacht.“
Scham sagt:
„Ich bin falsch.“
Diese Überlagerung nimmt uns den Boden. Die Scham wird total, übermächtig – beschämend. Wenn wir die beiden Ebenen entkleben (Marks, 2021), entsteht Freiheit: Wir können Verantwortung für unser Handeln übernehmen, ohne uns als Mensch in Frage zu stellen.
Fragen wie diese können helfen:
- Was genau ist passiert?
- Worin besteht mein Fehler – falls es ein Fehler war?
- Welches Verhalten kann ich verantworten?
- Und was gehört nicht zu meiner Würde als Mensch?
Diese Klärung ist entlastend und verantwortungsvoll zugleich. Sie öffnet uns einen Raum, in dem wir reifer und erwachsener mit uns selbst umgehen können – nicht abwertend, sondern würdevoll.
Hier beginnt bereits die Transformation: Wir übernehmen Verantwortung, ohne uns zu verlieren.

Und was ist der Gewinn dieses Weges?
Wenn wir Scham wahrnehmen, bewusst fühlen und sanft transformieren, schützen wir etwas Kostbares: unsere Würde.
Wir werden integrierter, sichtbarer, menschlicher. Wir beginnen, uns selbst zu halten – und werden dadurch fähig, auch andere zu halten. Scham wird nicht länger zum Käfig, sondern zum Weg: ein Weg in die eigene Reife, in die innere Freiheit, in die Verbundenheit mit dem Leben. Ein Weg, der uns erinnert:
Ich darf Mensch sein.
Ich darf fühlen.
Ich darf wachsen.
Und genau darin liegt die Kraft, Räume der Würde zu gestalten – für uns selbst und für andere.
Andere in Veränderungen begleiten – Scham erkennen und in Würde halten
Wenn wir in uns fähiger werden, Scham wahrzunehmen und loszulassen, erweitern wir auch unsere Fähigkeit, Scham bei anderen frühzeitig zu erkennen – selbst dann, wenn sie sich hinter Abwehrmechanismen versteckt. Wir interpretieren dann nicht vorschnell ein Verhalten, sondern treten in Kontakt und fragen uns: Welches Bedürfnis steht dahinter?
Scham zeigt sich selten direkt. Sie äußert sich in Rückzug, Widerstand, Aggression oder Überangepasstheit.
Gerade in Lern- und Transformationsprozessen begegnen wir solchen Mustern früher oder später.
Denn Schamreguliert Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und Abgrenzung – und wirkt damit unmittelbar auf Beziehungen und Zusammenarbeit. Diese Muster sind Schutzreaktionen. Ausdruck von Überforderung. Und oft Hinweise darauf, dass ein Grundbedürfnis verletzt wurde: nach Sicherheit, Anerkennung, Zugehörigkeit oder Integrität. Anstatt die vollständige Bandbreite möglicher Schamreaktionen aufzuführen, hilft es oft mehr, sich drei typische Situationen bewusst zu machen, wie sie im schulischen Alltag und in Veränderungsprozessen immer wieder auftauchen:
Drei Beispiele – drei Türen zur Verletzlichkeit
1. Widerstand eines Schülers: „Ich mach da nicht mit.“
Was wir sehen:
Ein Schüler blockt jede Rückmeldung ab, wirkt trotzig, laut oder abwertend.
Was darunter liegen kann:
Die Scham, etwas nicht zu können. Die Angst, beobachtet oder bewertet zu werden.
Der Wunsch, sich selbst zu schützen, bevor jemand anderes verletzt.
2. Vermeidung von Verantwortung im Team: „Da sollen andere entscheiden.“
Was wir sehen:
Aufträge werden weitergereicht, Entscheidungen vermieden, Verantwortung abgegeben.
Was darunter liegen kann:
Die Scham, den Erwartungen nicht zu genügen.
Die Angst, sichtbar zu werden oder Fehler zu machen.
3. Fokussieren auf das Negative: „Das bringt doch alles nichts.“
Was wir sehen:
Eine Person betont ständig Probleme, Risiken oder Defizite.
Was darunter liegen kann:
Eine tiefe Unsicherheit, selbst wirksam zu sein.
Der Schutz, nicht enttäuscht zu werden – bevor man es überhaupt versucht hat.
Diese Beispiele erinnern uns:
Hinter sichtbar schwierigen Verhaltensweisen liegt oft eine unsichtbare Verletzlichkeit.
Nicht das Verhalten zu kontrollieren ist entscheidend, sondern innezuhalten und zu fragen, was geschützt werden möchte.
Erst wenn wir das erkennen, können wir echte Räume der Würde öffnen – Räume, in denen Menschen sich wieder mit sich selbst verbinden.
Genau dafür braucht es eine schamsensible Begleitung.
Ein Gesprächsleitfaden für schamsensible Begleitung
Ein Gesprächsleitfaden für schamsensible Begleitung
1. Bei mir selbst einchecken
Bevor ich auf eine Reaktion eingehe, halte ich kurz inne und prüfe meine eigene Verfassung:
- Bin ich ruhig oder angespannt?
- Reagiere ich emotional, verletzt, wertend?
- Habe ich genügend innere Stabilität, um einen würdevollen Raum halten zu können?
Wenn ich selbst getriggert, erschöpft oder verärgert bin, ist es besser, nicht sofort zu handeln.
Dann kläre ich zuerst mein eigenes Bedürfnis: nach Sicherheit, Anerkennung, Integrität oder Zugehörigkeit.
Erst wenn ich wieder bei mir bin, kann ich für andere da sein.
2. Verhalten neutral spiegeln – ohne zu interpretieren
Scham verträgt keine Bewertung. Deshalb spiegeln wir nur das sichtbar Gewordene, ohne eine Geschichte hineinzulegen.
Statt zu sagen:
- „Du verweigerst die Mitarbeit.“
- „Du übertreibst.“
- „Du bist unkooperativ.“
ist es besser zu formulieren:
- „Ich sehe, dass du dich zurückgezogen hast.“
- „Ich merke, dass du gerade sehr leise geworden bist.“
- „Ich nehme wahr, dass du dich abwendest.“
- „Ich höre, dass du wütend klingst.“
Diese Art des Spiegelns öffnet Räume, anstatt sie zu verschließen. Sie macht sichtbar – ohne zu beschämen. Hier entsteht Vertrauen durch achtsamen Kontakt.
3. Einen sicheren Raum (der Würde) herstellen – zeitlich und räumlich
Ein sicherer Raum entsteht weniger durch Worte, sondern durch Haltung:
- langsam sprechen, klare Sprache
- eine weiche, gleichzeitig präsente Stimme
- Erdung im Körper
- kein Druck
- keine moralische Bewertung
Bitte beachten: In einer Schamsituation ist der betroffene Mensch nicht handlungsfähig. Verantwortung ist später wichtig – aber nicht in diesem Moment.
Wichtig ist außerdem Wahlfreiheit:
„Möchtest du jetzt darüber sprechen oder lieber später? Beides ist völlig in Ordnung.“
Wenn nötig:
- den Raum wechseln
- Zeit geben, aber verbindlich bleiben („Wir schauen später noch einmal gemeinsam darauf.“)
- Störungen minimieren
Der sichere Rahmen ist oft wichtiger als das Gespräch selbst.
4. Vom Verhalten zur Empfindung führen – weg vom Kopf, hin zum Körper (Unbedingt einfühlsam vorgehen!)
Scham blockiert das Denken. Und daher ist hier ist Vorsicht geboten! Menschen verfügen in diesen Zustand oft nur über sehr eingeschränkte kognitive Fähigkeiten. Erst beruhigen und zu einem späteren Zeitpunkt in entspannter Atmosphäre die Situation reflektieren.
Deshalb führt der Weg aus der Abwehr zurück in den Körper. Zur Wahrnehmung dessen, was jetzt gerade ist.
Hilfreiche Fragen können sein:
- „Was passiert gerade in dir?“
- „Was spürst du im Körper?“
- „Wie fühlt sich diese Situation an?“
Hier geht es nicht um Analyse oder Erklärung.
Es geht um Kontakt – darum zu verstehen, was das Verhalten schützt.
5. Das Bedürfnis erkunden – der Kern jeder Schamreaktion
Hinter jeder Schamreaktion steht ein verletztes Bedürfnis.
Wir fragen nicht: „Warum tust du das?“ – das führt sofort in Rechtfertigung oder Verteidigung.
Stattdessen fragen wir:
- „Fühlst du dich gerade nicht gesehen?“
- „Fühlst du dich unsicher?“
- „Hast du das Gefühl, allein gelassen zu werden?“
- „Fehlt dir Klarheit oder Orientierung?“
- „Brauchst du mehr Schutz oder Ruhe?“
So entsteht ein Raum der Würde.
Nicht, weil wir ein Problem lösen – sondern weil wir ein Bedürfnis anerkennen
6. Emotionen begleiten– ohne zu therapieren
Wenn ein Mensch sich sicher fühlt, tauchen manchmal Emotionen auf:
- Trauer
- Wut
- Ohnmacht
- Enttäuschung
Unsere Aufgabe ist nicht, diese Emotionen zu erklären oder zu verändern.
Unsere Aufgabe ist:
- präsent zu bleiben
- nicht wegzuschauen
- nicht zu beschwichtigen („Ist doch nicht so schlimm.“)
- nicht zu analysieren („Das kommt bestimmt von früher.“)
- nicht zu therapieren („Woher kommt dieses Gefühl?“)
Ein einziger Satz reicht oft:
„Es ist okay, dass du das fühlst. Ich bin da.“
Manchmal braucht es Stille. Manchmal ein Nicken. Manchmal ein gemeinsames Atmen.
7. Den Kreis schließen – gemeinsam weitergehen
Wenn der emotionale Kern gesehen wurde, klären wir gemeinsam:
- „Fühlt es sich für dich stimmig an, weiterzugehen?“
- „Brauchst du noch etwas, um wieder einzusteigen?“
- „Ist jetzt genug Ruhe da, um weiterzuarbeiten?“
Es geht nicht darum, „funktional“ zu werden. Es geht darum, den Menschen wieder in Kontakt mit sich selbst zu bringen.
Wenn das gelingt, wird der Mensch wieder handlungsfähig – nicht, weil wir ihn verändert hätten, sondern weil wir präsent, würdevoll und sicher waren.
Was dieser Weg ermöglicht
Wenn wir Scham bei anderen erkennen und Räume der Würde halten können:
- reduziert sich Widerstand
- Rückzug wird zu Kontakt
- Aggression verliert ihre Härte
- Überangepasstheit löst sich
- Menschen werden sichtbar
- Beziehungen werden stabiler
- Lernen und Veränderung wird möglich
Nicht, weil wir Lösungen liefern. Sondern weil wir hinschauen, ohne zu beschämen. Weil wir halten, ohne zu beherrschen. Weil wir den Menschen hinter dem Verhalten sehen.
Fazit – Scham sehen, Scham halten, Scham verwandeln
Warum Schamkompetenz der Schlüssel für nachhaltigen Wandel ist
Wenn wir auf Lernprozesse oder größere Veränderungsvorhaben schauen, fällt etwas auf: Die meisten Methoden, Konzepte oder Mindsets scheitern nicht an der Idee – sondern an der emotionalen Wirklichkeit.
Lernen macht sichtbar. Veränderung macht verletzlich. Und genau dort taucht Scham auf – leise, schnell, oft früher als gedacht.
Damit Transformationen gelingen, brauchen wir etwas, worüber in Schulen eher selten gesprochen wird: Schambewusstsein und Schamkompetenz. Nicht als Werkzeug, sondern als Haltung. Als Fähigkeit, sich selbst und anderen mit Würde zu begegnen, gerade dann, wenn es schwierig wird.
Die kulturelle Ebene – warum Scham uns alle betrifft
Wir alle sind in einer Kultur groß geworden, die einen eher schwierigen Umgang mit Scham hat. Einerseits wird sie tabuisiert: „So schlimm ist es nicht.“ Andererseits wird sie genutzt, um Verhalten zu kontrollieren oder zu sanktionieren. So entsteht eine Grundhaltung, die viele von uns kennen:
- „Mach keine Fehler.“
- „Zeig dich nicht zu sehr.“
- „Sei stark.“
- „Fall nicht auf.“
Die Folge ist selten bewusste Scham – sondern eher Angst, Perfektionismus, Rückzug oder hartes Urteilen über sich selbst. Das begleitet uns bis heute – auch in professionellen Rollen.
Die systemische Ebene – Schule als Brennpunkt von Scham
Im Bildungswesen wirkt all das besonders stark. Schule war für viele von uns der Ort, an dem wir früh lernten:
- Fehler bedeuten Gefahr.
- Sichtbarkeit kann weh tun.
- Rückzug schützt.
- Wut schützt auch.
- Geliebt wird, wer funktioniert.
Das ist niemandem „anzulasten“ – es ist ein transgeneratives System. Wenn Scham nicht bewusst wahrgenommen wird, wird sie weitergegeben, oft unabsichtlich. Und genau dadurch entstehen im Alltag diese bekannten Muster:
- Feedback wird eingeholt – aber Veränderung bleibt aus.
- Dialog wird geführt – aber ohne Resonanz.
- Kollaboration wird verlangt – aber Konflikte werden gescheut.
- Projekte starten stark – und brechen irgendwo ab.
Nicht, weil Menschen nicht wollen. Sondern weil Scham unbemerkt mit am Tisch sitzt.
Die individuelle Ebene – mein eigenes Schamgefäß verstehen
Wir können Wandel dann kraftvoll und nachhaltig begleiten und gestalten, wenn wir uns selbst gut kennen. Wir können dann auch in herausfordernden Situationen mit uns selbst verbunden bleiben, weil wir unser „Gefäß der Scham“ im Blick haben. Um diese „Schamkompetenz“ zu erweitern, hilft die Selbstreflexion, das Annehmen der Gefühle und auch die Trauer und den Schmerz. Wir alle haben eine Schamgeschichte: Erfahrungen, in denen Bedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit oder Integrität nicht gesehen wurden. Manchmal klein, manchmal tief.
Wenn wir diese Geschichte nicht kennen, zeigt sich Scham indirekt:
- Rückzug
- Perfektionismus
- Verärgerung
- Überanstrengung
- Überanpassung
- Härte
- Ironie
- Kälte
Nicht, weil wir „so sind“, sondern weil wir uns schützen.
Sobald wir beginnen, unsere eigene Scham wahrzunehmen, verändert sich etwas Entscheidendes: Wir müssen sie nicht mehr abwehren. Wir können lernen, mehr und mehr präsent bleiben. Und dadurch werden wir zum sicheren Gegenüber für andere – im Unterricht, im Team, in Transformationsprozessen.
Und so wird Scham zur Chance: Lasst uns Räume der Würde gestalten!
Wie entsteht Wandel, der wirklich trägt?
Wandel entsteht dort, wo Räume entstehen, in denen Menschen sich zeigen dürfen – mit ihren Stärken, mit ihren Grenzen, mit ihren Geschichten. Räume, in denen Fehler nicht beschämen, sondern weiterführen. Räume, in denen innere Sicherheit spürbar ist, weil jemand präsent bleibt, nicht urteilt und die Bedürfnisse hinter einem Verhalten sieht.
Das sind Räume der Würde. Und sie beginnen nicht mit Konzepten. Sie beginnen nicht mit Methoden. Sie beginnen mit uns.
Mit der Entscheidung, Scham nicht länger als Störung zu sehen, sondern als Wegweiser. Als Hinweis darauf, wo Heilung, Verbindung und Reifung möglich sind. Wenn wir Scham wahrnehmen, halten und verwandeln, wird nicht nur Lernen tiefer. Nicht nur Unterricht menschlicher.
Nicht nur Zusammenarbeit lebendiger. Sondern Wandel wird möglich – kraftvoll, vertrauensvoll, nachhaltig.
Quellen
Brown, B. (2015). Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead. Avery.
Hattie, J., & Clarke, S. (2019). Visible learning: Feedback. Routledge.
Marks, S. (2021). Scham: Die tabuisierte Emotion. Patmos.
Rushdie, S. (2019). Scham und Schande. Penguin Verlag.
Tisseron, S. (2000). Phänomen Scham: Psychoanalyse eines sozialen Affekts. Reinhardt.
Trobe, K., & Trobe, A. (2018). Scham und Schock heilen: Eine Anleitung in vier Schritten (Liebe Lernen). Innenwelt Verlag.




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