Scham als kreative Kraft verstehen
Scham hat eine sehr kreative Seite, der ich mich in diesem Beitrag widmenmöchte.
Wie der Psychologe Micha Hilgers betont, kann Scham – richtig verstanden – zu einem Antrieb werden, das eigene Potenzial zu entfalten.
„In geringen Dosen, in angemessener Form, ist Scham für die individuelle Entwicklung förderlich: Sie spornt uns an, nach mehr Unabhängigkeit zu streben, Leistungen zu erbringen, die wir uns bisher nicht zugetraut haben – also unseren Idealen nachzukommen, den idealen Vorstellungen, die wir von uns als Person haben. Solange Scham diesen Aspekt hat, ist sie durchaus positiv. Erst wenn sie die Person überwältigt, hat sie unter Umständen sehr destruktive Konsequenzen.“
(Hilgers, 2012)
Aus meiner eigenen Geschichte weiß ich: Als ich lernte, meine Scham zu spüren und als Teil von mir anzunehmen, konnte ich eine neue Beziehung zu mir selbst aufbauen – geprägt von Wertschätzung, Schutz und Verbundenheit. Daraus erwuchs ein neues Bewusstsein von Integrität und Autonomie.
Scham als menschliches Gefühl anzuerkennen – das ist der erste Schritt.
Momente der Scham als Chancen für Reifung zu begreifen – der zweite.
Diese Haltung ist nicht nur persönlich, sondern auch professionell bedeutsam.
Gerade Lehrkräfte, Schulleitungen oder Transformationsbegleitende engagieren sich für eine nachhaltige Veränderung in unserem Bildungssystem. Wir sprechen dabei von einem Kulturwandel, der viele Bereiche betrifft. Wenn wir dabei Scham als heimliche Triebkraft von Widerständen, Ängsten und mangelnder Kooperation in den Blick nehmen, gewinnen wir viel kreative Kraft.
Denn Scham sitzt nicht nur im Schulsystem – sie sitzt tief in der Gesellschaft und in unserem Alltag. Daher sollten wir auch die kulturellen Muster der Tabuisierung und Instrumentalisierung dieses Gefühls in den Wandel einbeziehen.
Um das zu tun, brauchen wir ein Bewusstsein dafür, wie wir Scham erkennen und halten können, damit sie sich von Beschämung zu Würde wandeln kann.
Scham – ein Gefühl & eine Frage der Kultur
Scham gehört zum Spektrum menschlicher Gefühle – sie begleitet uns ein Leben lang. Sie ist nicht das Problem.
Das Problem entsteht dort, wo Scham als Emotion tabuisiert (Marks, 2021) oder zur Unterdrückung und Demütigung instrumentalisiert (von Scheve, 2025) wird. Wenn Menschen ihre Emotionen dauerhaft bzw. regelmäßig nicht zeigen dürfen – sie nicht in Kontakt bringen können, sie nicht durchfühlen können und somit verarbeiten können, dann droht Scham auch zu einem dauerhaften Zustand zu werden – zu „chronischer Scham“ (Wurmser, 2017). Denn was nicht gezeigt werden darf, bleibt im Inneren unaufgelöst und wird zu einem Teil des Selbstgefühls.
Solange Scham verdrängt wird, können Menschen die bewusste Auseinandersetzung mit dem Gefühl nur bedingt – und in geschützten Räumen wie Therapie oder schamsensiblen Räumen – für ihre persönliche Entwicklung nutzen. In schulischen Kontexten bleiben diese Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt, weil Schule häufig noch ein Raum ist, in dem Scham seit Generationen weitergegeben und beschämende Situationen reproduziert werden. Lehrkräfte geben ihre eigenen Schamerfahrungen häufig unbewusst weiter (Marks, 2021).
Während in Schulen Scham unbewusst weitergegeben wird, dient sie in vielen Bereichen der Öffentlichkeit als Mittel sozialer Kontrolle. So erfahren Menschen beispielsweise in sozialen Medien öffentliche Beschämung durch ein „An den Pranger-Stellen“ – wegen Hautfarbe, Geschlechtsidentität, politischer Zugehörigkeit oder bestimmter Denkweisen. Dies dient, so der Soziologe Christian von Scheve (2025) in einem Beitrag des Deutschlandfunks als „ein starkes soziales Regulationsmittel“, um Menschen in ihrem Verhalten zu sanktionieren und zu kontrollieren.
Es ist somit leicht nachvollziehbar, dass Scham als Gefühl in vielen Kontexten erlebt, aber selten verarbeitet wird. Somit wird für viele Menschen Scham zu einem chronischen Zustand (Wurmser, 2017). Der Psychoanalytiker Leon Wurmser beschreibt damit eine dauerhafte und verinnerlichte Beschämung, die auch für Außenstehende häufig unsichtbar bleibt. In diesem Zustand können Menschen die Scham nicht spüren und verstecken diese seelischen Qualen hinter „Masken“ – sogenannten Abwehrmechanismen. Von Außen werden diese Strategien dann oft als Teil des Charakters interpretiert – jemand ist „halt schüchtern“ oder „meidet Verantwortung“.
Es sollte erkennbar werden, dass Scham ein machtvolles Gefühl ist – doch in unserer Kultur wird sie hauptsächlich verdrängt oder instrumentalisiert. Um Zugang zu den von Hilgers (und vielen anderen) beschriebenen positiven Effekten der Scham zu finden, muss sie ans Tageslicht geholt werden.
Der Trauma- und Paartherapeut Don R. Catherall (2022) hat in seinem Buch Emotionale Sicherheit gezeigt, dass erst dann, wenn sich Menschen genügend sicher und wertgeschätzt fühlen, auch schmerzhafte Gefühle wie Scham sichtbar werden.

Wird Scham in einem Kontext emotionaler Sicherheit und Resonanz erlebt, kann sie ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllen: Sie führt uns zurück – zu uns selbst, zueinander und zu unserer Menschlichkeit.
Wo Scham entsteht – und was sie uns über unsere Bedürfnisse lehrt
Um zu verstehen, wie schnell Scham entsteht, werfen wir einen Blick auf Situationen, in denen Menschen ein Gefühl von Scham erleben können. Wir nehmen dabei den Blick von Leon Wurmser ein: Scham – „Hüterin der Würde“. Sie zeigt sich, weil sie unser Menschsein schützen will.
Scham entsteht immer dort, wo wir uns in unserem Menschsein verletzt fühlen – wenn etwas an uns nicht gesehen, nicht geachtet oder nicht geschützt wird. Stephan Marks beschreibt vier Grundformen der Scham. Sie machen deutlich, wie eng Scham mit unseren Grundbedürfnissen nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität verknüpft ist (Marks, 2021).
Diese Bedürfnisse verbinden uns alle als Menschen – von Schülerinnen und Schülern, die lernen, dass ihr Selbstwert an Noten hängt, über Lehrkräfte, die zwischen eigenen Ansprüchen und äußeren Erwartungen stehen, bis hin zu Schulleitungen und Verwaltung, die Verantwortung tragen, aber oft wenig Rückhalt oder Mitgestaltung erfahren.
1. Missachtungs-Scham – das Bedürfnis nach Anerkennung
Wir alle möchten wahrgenommen werden – mit dem, was wir beitragen, denken und fühlen.
Wenn Anerkennung ausbleibt, entsteht Scham. Äußerlich zeigt sie sich durch Rückzug, Gereiztheit oder das Schwinden der Kraft. Missachtung kann persönlich erlebt werden – etwa wenn Engagement unbeachtet bleibt –, oder strukturell, wenn Wertschätzung systemisch nicht vorgesehen ist.
Jugendliche erleben sie, wenn sie das Gefühl haben, in ihrer Einzigartigkeit nicht gesehen zu werden – wenn Noten und Vergleiche zählen, aber ihre anderen Fähigkeiten, etwa im Sport, in der Musik oder im sozialen Engagement, kaum Beachtung finden.
Lehrkräfte kennen diese Scham, wenn ihr Engagement im Kollegium wenig Beachtung findet. Wenn Anweisungen im Alltag dominieren, Wertschätzung aber nur in einem allgemeinen Jahresbrief Platz findet, fühlen sich Menschen nicht gesehen.
Schulleitungen erleben ähnliche Dynamiken, wenn Vorgaben ‚von oben kommen‘, ohne dass ihre Expertise oder die Realität ihrer Schulen gehört wird. Dann kann Scham leise in den Satz fließen: Ich tue, was ich kann – aber es scheint nie genug zu sein.
Wenn Menschen spüren, dass sie den eigenen Ansprüchen, den Erwartungen des Systems oder ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden, kann das Gefühl entstehen: Ich bin nicht genug.
Genau hier beginnt Missachtungs-Scham – nicht, weil jemand bewusst beschämt, sondern weil Resonanz und Anerkennung ausblieben.
Verstehen wir Scham als Hüterin unserer Würde, signalisiert uns das Gefühl von Missachtung: Ich möchte gesehen werden – als Mensch und in Würde. Die Scham mahnt uns, wieder in Kontakt zu treten – mit uns selbst und mit anderen.
2. Grenz- oder Intimitäts-Scham – das Bedürfnis nach Schutz
Diese Form entsteht, wenn unser persönlicher und intimer Schutzraum verletzt wird – körperlich, emotional oder sozial. Wir fühlen uns ausgeliefert, vielleicht entblößt oder lächerlich gemacht.
Das Phänomen Mobbing zeigt, dass diejenigen, die Gewalt ausüben und Grenzen missachten, selbst Opfer von Übergriffen waren und beschämt wurden. Um diese Gefühle selbst nicht zu spüren, werden andere Menschen beschämt, drangsaliert und gedemütigt. Scham wird weitergereicht, weil sie keinen Raum findet, gesehen zu werden.
Auf struktureller Ebene zeigen sich Grenzverletzungen, wenn Rückzugsräume fehlen – Orte, an denen Menschen in Ruhe und Stille wieder zu sich kommen können.
Im Schulalltag sind Pausen kurz, Aufsichten dicht, Gespräche finden „zwischen Tür und Angel“ statt. Das alles lässt Menschen sich eher als Getriebene denn als Gestaltende erleben. Eine Kollegin zieht sich in der Pause zurück, wird aber angesprochen, obwohl sie sichtbar erschöpft ist. Kurz vor Unterrichtsbeginn erscheint die Schulleitung im Klassenraum, um noch schnell die nächste Vertretungsstunde mitzuteilen.
Wo der Rhythmus von außen bestimmt wird, kann das eigene Bedürfnis nach Schutz leicht untergehen – und Beschämung wird spürbar.
Auch Führungskräfte erleben solche Dynamiken.
Wenn Anweisungen von außen ohne Rücksprache erfolgen, wird die eigene Handlungsfreiheit schnell als eingeschränkt erlebt, manchmal auch als „rücksichtsloser Eingriff“.
Entscheidungen, die „über einen hinweggehen“, verletzen die Würde und können Scham auslösen – weil sie das Gefühl erzeugen, in den eigenen Bedürfnissen nicht respektiert oder ernst genommen zu werden.
Manchmal ist es gar kein großer Übergriff, der Scham auslöst – oft reicht ein Blick, ein Lachen im falschen Moment oder ein übergangener Wunsch nach Ruhe. Hier beginnt die Intimitätsscham, die uns signalisiert: Ich wurde verletzt – und zugleich: Ich konnte mich nicht schützen.
Wenn Grenzen nicht gewahrt werden, ziehen wir uns innerlich zurück – und riskieren, Zugehörigkeit zu verlieren.
3. Ausgrenzungs-Scham – das Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Scham entsteht auch, wenn wir uns nicht mehr als Teil einer Gruppe erleben. Dieses Gefühl der Trennung ist eine uralte menschliche Erfahrung: In frühen Gemeinschaften konnte Ausgrenzung den Tod bedeuten. Noch heute prägt sie unser Verhalten. Wir tun vieles, um dazuzugehören – auf Kosten unserer Authentizität.
In Schulen zeigt sich das, wenn Arbeitsmoral das Übergehen eigener Grenzen als Stärke auslegt. Viele Lehrkräfte halten Belastung aus, um nicht als schwach zu gelten. Wenn Grüppchenbildung das Kollegium fragmentiert, entstehen Spannungen, die den Zusammenhalt untergraben. Heranwachsende erleben Ähnliches: Soziale Medien verstärken das Streben nach Zugehörigkeit – durch Schönheitsideale, Likes und Rollenbilder. Wer anders ist, riskiert Ausgrenzung.
Diese Form von Scham wirkt oft unsichtbar. Niemand sagt: Ich fühle mich ausgeschlossen.
Stattdessen entstehen leise Signale: Schweigen, Sarkasmus, Desinteresse. Wir verwechseln sie leicht mit Widerstand – tatsächlich sind sie oft Ausdruck verletzter Zugehörigkeit.
Die Psychologin und Kommunikationsexpertin Susan Chapman (2012) beschreibt in ihrem Ampelmodell der Kommunikation, dass Beziehungen in solchen Momenten in den „roten Raum“ geraten. Menschen nehmen Bedrohung statt Verbindung wahr – verschließen sich oder reagieren feindselig. Scham zeigt sich hier als Folge von Überforderung, nicht als Schwäche.
4. Gewissens- oder Integritäts-Scham – das Bedürfnis nach innerer Stimmigkeit
Diese Form tritt auf, wenn wir gegen unsere eigenen Werte handeln oder uns dazu gezwungen fühlen. Viele Lehrkräfte kennen das unangenehme Gefühl, Noten zu vergeben, die der eigenen Einschätzung widersprechen, oder administrative Maßnahmen umzusetzen, die sie pädagogisch für falsch halten.
Schulleitungen erleben Ähnliches, wenn sie Personalentscheidungen treffen müssen, die Menschen belasten, obwohl sie es anders wollen.
In der Verwaltung zeigt sie sich, wenn Anweisungen umgesetzt werden müssen, die widersprüchlich oder unverständlich erscheinen – oft, weil sich Rahmenbedingungen kurzfristig ändern.
Marks beschreibt diese Form als besonders tiefgreifend, weil sie unser Selbstbild betrifft – unser Gefühl, integer zu handeln.
In solchen Momenten spüren Menschen: Ich handle nicht mehr im Einklang mit dem was mir wichtig ist.
Scham signalisiert hier: Ich habe mich von mir selbst entfernt. Gleichzeitig ruft sie dazu auf, wieder zu den eigenen Werten zurückzufinden.
… halten wir kurz inne …
Jede Verletzung dieser Bedürfnisse kann – je nach Perspektive – eine Erfahrung der Beschämung sein oder eine Lernchance zur persönlichen und sozialen Reife. Aktuell werden diese Lernchancen häufig verpasst und stattdessen wird eine Kultur der Beschämung fortgeschrieben. Dann wird Scham zu einem chronischen Zustand, Menschen verstecken ihre Schamgefühle hinter Masken.
Doch wenn wir sensibel für die tiefen kulturellen Prägungen der Beschämung werden, können wir Räume des Lernens öffnen.
Ein gründlicher Blick hinter die „Masken“ kann dabei ein erster Schritt zur Heilung eigener Schamerfahrungen sein.
Die neue Perspektive: Scham als Weg zu Beziehung und Wachstum
Wenn wir Scham als kreative Kraft erkennen, verändert sich unser Blick.
Wir beginnen zu verstehen, dass Verhalten nicht gegen uns gerichtet ist, sondern für etwas steht – für den Versuch, die eigene Würde zu bewahren. Was wir bisher als „schwieriges Verhalten“ oder „Charakterzug“ gedeutet haben, kann sich dann als Schutzversuch der Würde zeigen.
Stephan Marks beschreibt zahlreiche Formen solcher Abwehr. Sie sind nicht vollständig – und nicht immer Ausdruck von Scham. Doch wo Scham wirksam ist, sind sie meist Ausdruck eines inneren Überlebensimpulses: einer Stressreaktion, die helfen soll, Ohnmacht, Hilflosigkeit oder das drohende Gefühl von Trennung abzuwehren.
Diese Abwehr geschieht – neurobiologisch betrachtet – auf der Ebene von Angriff, Flucht oder Erstarrung. Sie soll das Ich stabilisieren, wenn Zugehörigkeit oder Integrität bedroht sind (Marks, 2021). Über die Zeit jedoch verfestigen sich solche Schutzmuster. Was einst ein Notprogramm war, wird zur Gewohnheit, zur Haltung – und von außen häufig als „arrogant“, „uneinsichtig“, „chaotisch“ oder „überangepasst“ interpretiert (Wurmser, 2017). So werden Menschen erneut beschämt – und der Kreis schließt sich.
So kann hinter dem aggressiven Schüler, der laut wird und provoziert, die Abwehr einer tiefen Scham stehen – die Scham, sich schwach, unzulänglich oder ausgelacht zu fühlen.
Hinter der Kollegin, die sich der Digitalisierung verweigert, könnte sich die Angst verbergen, Fehler zu machen, Kontrolle zu verlieren oder in der Gemeinschaft nicht mehr dazuzugehören.
Und der aufbrausende Schulleiter, der auf jede Nachfrage gereizt reagiert, mag ein Mensch sein, der sich selbst im Arbeitsdruck kaum noch spürt – der nach Anerkennung sucht und sich zugleich schämt, den Erwartungen nicht zu genügen.
Die Perspektive ändern
Ein schambewusster Blick öffnet diesen Kreis.
Er sucht nicht nach Schuld, sondern nach Bedeutung.
Er will nicht bloß Verhalten korrigieren, sondern Verständnis und Selbstachtung wiederherstellen.
Er fragt nicht: Was stimmt mit dir nicht?
Er fragt: Warum ziehst du dich zurück? Warum reagierst du so heftig?
In einem Moment des Innehaltens kann ich mich fragen:
Worin fühlt sich dieser Mensch gerade bedroht?
Geht es um seine Zugehörigkeit, seine Integrität, sein Bedürfnis, gesehen zu werden – oder darum, dass eine persönliche Grenze überschritten wurde?
Solche Fragen verändern den Raum.
Sie holen uns heraus aus dem Urteil und hinein in die Beziehung.
Sie laden dazu ein, nicht nur das Verhalten zu sehen, sondern den Menschen dahinter – mit seiner Geschichte, seinen Gefühlen und den Spuren früherer Beschämung.
Wo dieser Blick möglich wird, verwandelt sich Kontrolle in Mitgefühl – und Begegnung wird wieder möglich.
Schambewusstsein heißt: Verhalten nicht einfach zu deuten, sondern in Beziehung zu gehen.
Scham wird zum Lernfeld
Scham wird zum Lernfeld, wenn wir den Mut haben, hinter die Muster der Abwehr zu schauen und in wertschätzenden Kontakt zu gehen.
Indem wir uns einem Menschen mit echtem Interesse an den Gefühlen, Gedanken und Geschichten achtsam nähern, entsteht jener Raum, in dem sich Abwehr in Begegnung wandelt – und Verletzungen zu Lernchancen werden: ein Raum der Würde.
Räume der Würde – in uns & um uns
Würde entsteht nicht zufällig. Sie braucht Räume, die bewusst gestaltet werden – Räume, in denen Sicherheit, Respekt und Lebendigkeit gleichermaßen Platz haben.
Die Kommunikationsexpertin Susan G. Chapman beschreibt in ihrer Arbeit über achtsame Kommunikation diese Räume als „grüne Zonen“ – Zustände, in denen unser Nervensystem Entspannung und Verbundenheit signalisiert.
Solche Räume ermöglichen Begegnung, weil sie frei sind von Bedrohung und Kontrolle. Hier kann das, was in uns lebendig ist, gesehen und gehört werden – ohne Angst vor Beschämung oder Ausschluss (Chapman, 2010).
Damit solche Räume entstehen, braucht es Absicht.
Sie müssen mit einer Haltung geschaffen werden, die Schutz und Sicherheit gewährt, aber auch Ermutigung und Wachstum fördert.
Der Psychotherapeut Don R. Catherall (2022) spricht in diesem Zusammenhang von emotionaler Sicherheit – einem Klima, in dem Menschen sich sicher genug fühlen, sich zu zeigen, zu irren, zu lernen.
Diese Sicherheit ist keine Weichheit, sondern die Grundlage, um auch in herausfordernden Momenten offen zu bleiben – im Gespräch, im Konflikt, im gemeinsamen Ringen um Lösungen.
Würde zu wahren heißt dabei nicht, es allen recht zu machen.
Würde zeigt sich gerade dann, wenn wir in schwierigen Situationen Werte verhandeln – mit einer Haltung von Respekt und innerer Klarheit.
Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität sind dabei wie vier tragende Pfeiler.
Sie sichern, dass Menschen sich gesehen und zugleich gehalten fühlen dürfen – auch dann, wenn Spannungen, Unsicherheiten oder Ängste im Raum sind.
Wenn solche Gefühle nicht abgewehrt, sondern in einem sicheren Rahmen geteilt werden dürfen, verlieren sie ihre Macht.
Dann kann etwas Neues entstehen – Vertrauen, Verbindung, manchmal auch jene leisen, magischen Momente, in denen sich kreative Lösungen zeigen.
Doch um solche Räume im Außen zu öffnen und zu halten, brauchen wir auch Räume der Würde in uns selbst.
Nur wenn wir bereit sind, unsere eigene Scham, unsere Verletzlichkeit und unsere Grenzen anzunehmen – und daraus zu lernen –, können wir aus innerer Würde heraus wirken.
Es ist ein lebenslanger Prozess, die Scham in uns nicht länger als Feind, sondern als Wegweiser zu verstehen.
Erst wenn wir der Scham in uns Raum geben, können wir auch die Scham anderer in Würde halten.
Würde heißt auch, unsere Grenzen zu achten – nicht aus Rückzug, sondern aus Selbstschutz und Klarheit.
Wer die eigene Würde wahrt, kann sich abgrenzen, ohne das Gegenüber auszuschließen.
So entsteht jene Präsenz, die es erlaubt, offen zu bleiben und zugleich bei sich zu bleiben.

Der Perspektivwechsel wird damit vollständig:
Nicht nur die Scham der anderen darf im Raum sein, sondern auch die eigene.
In diesem wechselseitigen Erkennen wächst Beziehung – und mit ihr die Fähigkeit, Räume zu gestalten, in denen Menschen sich sicher, lebendig und würdevoll erleben können.
Zum Abschluss: Eine Portion Realismus – und ein Ausblick
Diesen Wandel zu vollziehen, ist nicht leicht, braucht Ausdauer und Geduld – und vor allem Mut, vielleicht sogar Übermut.
Denn seien wir realistisch: Im Alltag – getrieben von Terminen, To-do-Listen und Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind – fehlt oft die Zeit für jene „grünen Zonen“, von denen Susan Chapman spricht, oder für die „emotionale Sicherheit“, die Don R. Catherall beschreibt.
Wir sind ja nicht in der Therapie, sondern in Schule, Verwaltung oder in anderen Arbeitsprozessen eingebunden.
Und dort haben die Bedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität oft wenig Platz – anderes scheint wichtiger. Oft herrscht Hektik, es fehlt an Achtsamkeit, und viele fühlen sich in Strukturen gefangen, die kaum noch Luft zum Atmen lassen.
Und so scheint dieser Kulturwandel unmöglich.
Meine persönliche Erfahrung ist eine andere: Ich durfte lernen, die eigene Würde in mir zu wahren und erlebte, dass ich sie im Außen auch verkörpern kann – besonders dann, wenn die Umstände schwierig sind. Dann, wenn es mir gelingt aus mir selbst Kraft, Klarheit und Mitgefühl zu entwickeln, kann ich auch in herausfordernden Situationen Grenzen ziehen, präsent bleiben und aufrecht handeln.
Wirkliche Veränderung beginnt im Inneren – dort, wo wir lernen, mit unserer Scham, unserer Würde und unserer Kraft in Verbindung zu bleiben. Wenn im Außen noch wenig Bereitschaft zur Veränderung ist, beginne ich bei mir selbst – bei meiner Würde.
Daraus wächst die Kraft, auch im Außen Wandel zu ermöglichen.
Von hier aus kann Wandel entstehen, der trägt – in uns und zwischen uns.
Wie wir als Lehrkräfte, Schulleitungen, Menschen in Verwaltung oder in Transformationsprozessen diese inneren Räume der Würde gestalten und halten können – darum geht es im dritten und letzten Teil dieser Reihe.
Quellen
Catherall, D. R. (2022). Emotionale Sicherheit: Wie wir lernen, uns selbst und anderen zu vertrauen. Carl-Auer-Systeme Verlag.
Chapman, S. (2010). Stop, wait, go. Mindful.
Hilgers, M. (2012). Scham: Gesichter eines Affekts. Vandenhoeck & Ruprecht.
Marks, S. (2021). Scham: Die tabuisierte Emotion . Patmos Verlag
Scheve, C. (2025): Die Macht von Scham und Beschämung. Beitrag in: Deutschlandfunk vom 3. November 2025.
Wurmser, L. (2017). Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse der Scham und Schuldgefühle. Klotz.
Bildrechte: KI-generierte Bilder, erstellt mit Unterstützung von ChatGPT (OpenAI, DALL·E), Beschreibung und Konzept: Alexander Eckardt, 2025.



