Wenn Vergangenheit Zukunft blockiert – Echter Wandel führt zurück zu uns!

Worum es mir geht…

Schule als System erscheint mir oft träge und starr, wenn es um Veränderungen geht. In diesem Beitrag möchte ich auf einen vernachlässigten Aspekt aufmerksam machen, wenn es um Schulentwicklung und Transformation geht. Der Einfluss der eigenen Biografie auf Offenheit und Neugier für Impulse und Ideen scheint enorm.

Mit diesem Beitrag lade ich alle, die an Schulentwicklung und Schultransformation beteiligt sind, herzlich zur Diskussion ein.

Konkret geht es in diesem Artikel um Folgendes:

  • Eine Frage beschäftigt mich schon lange – Was hält uns zurück?
  • Mit dem Blick zurück, einen Schritt nach vorn – Biografiearbeit – Was ist Biografiearbeit?
  • Wenn die Schulzeit mitstudiert – die Macht der Biografie in der Lehrkräftebildung – Welche empirischen Belege gibt es?
  • Die Kraft der eigenen Geschichte – biografische Ressourcen für die Transformation – Welche Parallelen zur Schulentwicklung gibt es?
  • Von der Person zur Institution – systemische Biografiearbeit – Wie kann Biografiearbeit Schulen verändern?

Eine Frage beschäftigt mich schon lange …

Obwohl die meisten Akteure1 im schulischen Bildungswesen einerseits dringenden Veränderungsbedarf benennen können und es andererseits eine Fülle an erprobten Verbesserungsvorschlägen gibt, bleiben die Veränderungen in der Breite doch überschaubar.

Woran liegt das? Diese Frage begleitet mich als Schul- und Personalentwickler schon lange. Doch in letzter Zeit bin ich vielleicht einer möglichen Antwort näher gekommen.

Ein wesentlicher Schlüssel meiner persönlichen Professionalisierung lag in der bewussten Reflexion meiner schulbiografischen Prägungen. Aus dieser Erfahrung heraus erlebe ich diesen Ansatz sehr kraftvoll. Diese „Biografiearbeit“ lässt mich auch tieferliegende Handlungs- und Denkmuster reflektieren. Neue Impulse finden nachhaltigen Eingang in mein Handlungsrepertoire. Hartnäckige Überzeugungen über meine Lehrerrolle lösten sich auf.

Biografiearbeit – kann als das Aufspüren unbewusst wirkender Prägungen verstanden werden. Dies könnte auch in Schulentwicklungs- und Transformationsprozessen ein kraftvolles Werkzeug sein.

Mit dem Blick zurück, einen Schritt nach vorn – Biografiearbeit

Die Biografie eines Menschen wird meist als seine Lebensgeschichte verstanden und umfasst wichtige chronologisch oder thematisch geordnete Ereignisse. Die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte wird als Biografiearbeit bezeichnet.

In ihrem aktuellen Standardwerk zur Biografiearbeit richtet Ingrid Miethe den Fokus auf die subjektive Bedeutung der Lebensereignisse. Erfahrungen können zu Ressourcen oder Hindernissen werden – je nachdem, welchen Sinn wir ihnen beimessen. So kann es vorkommen, dass subjektive Erinnerungen nicht mit „wirklichen Ereignissen“ übereinstimmen müssen (vgl. Miethe, 2011, S. 12-16). Ihr Kollege Georg Ruhe betont das kraftvolle Ziel für die Veränderung der eigenen Geschichte. Es geht um „Erinnerung, Aktualisierung und Einbeziehung der Vergangenheit in die Gegenwart mit Blick auf eine mögliche Zukunft“ (Ruhe, 2014, S. 33).

Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich bestätigen: Biografiearbeit wirkt. Die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie verändert meine Handlungs- und Denkmuster nachhaltig. Das Hinterfragen von Bedeutungen und das Entwickeln neuer Sinnstiftungen erlebe ich oft als sehr befreiend.

Der Erziehungswissenschaftler Christian Lindmeier bringt dieses Erleben auf den Punkt: „das bewusste Gestalten des eigenen Lebensweges“ (Lindmeier, 2005, S. 10).

So wandelte sich mein Verständnis von Autorität und Beziehungsgestaltung grundlegend. Der Wunsch nach Kontrolle wich einem neuen Vertrauen. In authentischen Begegnungen wurden Grenzen und Möglichkeiten für mich und meine Schüler erkennbar. Das ist eine unschätzbare Ressource für das gemeinsame Lernen und Wachsen. Eine neue Präsenz entfaltete ihre Wirkung: Das Potenzial meiner Schüler wurde sichtbar.

Das Ziel ist klar: das eigene Handlungsrepertoire reflektieren. Neue Situationen brauchen erweiterte Möglichkeiten. Dies kann auch das Loslassen bestehender Handlungsmuster bedeuten. Wie bewährt sich dieser biografische Ansatz in der Breite der Lehrkräftebildung? Gibt es wissenschaftliche Belege für das, was ich persönlich erfahren habe?

Wenn die Schulzeit mitstudiert – die Macht der Biografie in der Lehrkräftebildung

Mittlerweile hat die Forschung den Wert der Biografiearbeit für die erfolgreiche Professionalisierung angehender Lehrkräfte erkannt, wie der Bildungsforscher Helsper ausführlich darlegt (Helsper, 2018). Und der in der Lehrkräftebildung renommierte Professor für Erziehungswissenschaft Ewald Terhart stellt fest, dass im Übergang vom Schüler zum Lehrer private und berufliche Lebenserfahrungen verschmelzen und diese die Professionalisierung angehender Lehrkräfte entscheidend prägen (vgl. Terhart, 2011, S. 208).

Aus Sicht des amerikanischen Erziehungswissenschaftlers und Psychologen Manuel Francisco Pajares sind Lehrkräfte in Ausbildung „Insider“ (Pajares, 1992, S. 323). Sie kennen ihr Arbeitsfeld bereits aus der Schülerperspektive. Das bringt prägende Vorstellungen mit sich. Diese Annahme führte Helsper zu der Überlegung, dass der Prozess, eine Lehrkraft zu werden, keine Sozialisation darstellt. Er versteht Professionalisierung von Lehrkräften als einen transformatorischen Bildungsprozess (vgl. Helsper, 2018, S. 36). Entscheidend dabei ist, dass schulbiografische Erfahrungen Überzeugungen formen, die als Selektions- und Wahrnehmungsfilter wirken (vgl. Pajares, 1992, S. 324). Manchmal unterstützen sie die Entwicklung. Manchmal hemmen sie.

Diese Auswirkungen wurden auch empirisch nachgewiesen. Für ihre aktuelle Studie zur Wirkmächtigkeit biografischer Einflüsse führte Julia Košinár mit 24 Studierenden des Grundschullehramtes mehrere Interviews. Anschließend interpretiert sie die Ergebnisse mithilfe von berufsbiografischen Professionalisierungstheorien. So konnte sie u.a. den biografischen Zusammenhang herausarbeiten zwischen der Motivation, den Beruf zu ergreifen und dem Umgang mit Feedback in der Ausbildungsphase.

Eine Studentin, die sich bewusst für den Beruf „zur Setzung eines positiven Gegenhorizonts zur eigenen Schulzeit“ entschieden hatte, sah im ersten Praktikum die Chance, ihre pädagogischen Vorstellungen zu überprüfen. Ein Student hingegen, der den Beruf „nur“ als Ausweg aus einer früheren Tätigkeit gewählt hatte, erlebte die Praxisphase unter dem „Druck der Eignungsbestätigung“.

Dies hatte weitreichenden Einfluss auf den Umgang mit kritischem Feedback. Während die Studentin in ihrer Ausbilderin vor allem ein Vorbild sah, die sie bei ihrer Professionalisierung unterstützen konnte, stellte der Student die Qualität der Rückmeldungen seines Ausbilders in Frage. Für ihn zählten ausschließlich positive Rückmeldungen von Schülern als Bestätigung für seine berufliche Eignung.

Auch die Zusammenarbeit mit anderen Studierenden wurde grundlegend unterschiedlich gesehen. In der Zusammenarbeit mit ihrem Tandempartner erachtete die Studentin Feedback als sinnvoll, „wenn sie sich im Einklang mit dem eigenen Vorgehen und den Vorstellungen bewegten“. Der Student verglich seine Situation in Abgrenzung und Abwertung zu anderen Studierenden, um die eigene Passung als Lehrkraft vor sich selbst zu bestätigen (vgl. Košinár, 2024, S. 194 – 198).

Dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ein tieferes Selbstverständnis ermöglicht, weiß Manuela Roth-Vormann zu berichten. Sie begleitete angehende Lehrkräfte der Universität Bielefeld als Supervisions-Coach im Rahmen der Biografiearbeit. Die Studierenden bestätigten, dass durch die Biografiearbeit eine „tiefgreifende Selbstreflexion angestoßen [wurde], die sich in anderen Kontexten des Studiums – aber auch in privaten Gesprächen – so nicht findet“ (Roth-Vormann, 2019, S. 58).

Eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion ist für den Lehrerberuf essentiell und eine wesentliche Gelingensbedingung in Veränderungsprozessen.

Mittlerweile hat Biografiearbeit in einigen Bundesländern (z.B. Hessen und NRW) bereits einen verbindlichen Platz in den Kerncurricula des Vorbereitungsdienstes eingenommen.

Somit wirft diese Wirksamkeit eine zentrale Frage auf: Könnte Biografiearbeit als Ressource für transformatorische Prozesse auch in anderen Bereichen des Bildungswesens angewandt werden?

Die Kraft der eigenen Geschichte – biografische Ressourcen für die Transformation

Die Parallelen zwischen Lehrkräftebildung und Schulentwicklungsprozessen zeigen sich in zwei zentralen Aspekten: Beide erfordern transformatorische Rollenwechsel, die weit über methodische Anpassungen hinausgehen, und beide Gruppen sind „Insider“ mit biografischen Prägungen, die den Transformationsprozess maßgeblich beeinflussen können.

Wenn Wandel mehr als neue Methoden bedeutet

Aus eigenem Erleben weiß ich, neue Methoden allein reichen nicht. Veränderungen werden nachhaltig wirksam, wenn Neues erfolgreich mit bestehenden Erfahrungen verknüpft wurde.

Wenn wir über Schultransformation sprechen, sprechen wir über einen komplexen Kulturwandel. Diese Veränderungen bedeuten häufig auch fundamentale Rollenwechsel: vom Instrukteur zum Lernbegleiter; vom Wissensvermittler zum Potenzialentfalter; vom Arbeitsblattdesigner zum Raumarchitekten…

Der Umgang mit Fehlern kann eine nicht minder große Herausforderung darstellen: Fehlervermeidung weicht der Sicht auf Fehler als Lernchance; Bewertung wird zu passendem Feedback jenseits von Noten. Der Beurteilende wird „critical friend“; die Defizitorientierung zur Stärkenorientierung.

In der Beziehungsgestaltung vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel: Kontrolle weicht dem Vertrauen in Selbstständigkeit; aus Einzelkämpfern werden Teamplayer in kollegialer Zusammenarbeit; hierarchische Entscheidungsstrukturen werden zu partizipativen.

Solche Wandlungen erfordern eine grundlegende Neuorientierung der professionellen Identität. Ein Lehrer, der jahrzehntelang frontal unterrichtet hat und nun Lernbegleiter werden soll, durchläuft einen ebenso transformatorischen Prozess wie ein Lehramtsstudent, der vom Schüler zum Lehrer wird.

Der „Insider-Status“ als Herausforderung

Wie Lehramtsstudierende sind auch erfahrene Lehrkräfte in Schulentwicklungsprozessen „Insider“ mit ausgeprägten Vorerfahrungen. Bleiben die Einflüsse dieser Überzeugungen unreflektiert, können sie Veränderungsprozesse stark behindern.

Selektions- und Filtereffekte können dazu führen, dass Widerstände nicht aufgelöst werden. Ängste, Zweifel oder Ablehnung können viel Kraft und Energie rauben, weil sie im Verborgenen wirken.

Werden Zusammenhänge zwischen der eigenen Geschichte und dem persönlichen Handeln erkannt, können sich daraus neue Perspektiven eröffnen. Die „Insider“-Erfahrungen können so zu wertvollen Ressourcen werden.

Heute sehe ich in Fehlern und im Scheitern lehrreiche Erfahrungen. Doch diese Haltung habe ich weder in meiner Schulzeit noch in meinem Referendariat entwickeln können.

Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen biografischen Prägungen lenkte den Fokus weg von Defizitorientierung hin zu Wertschätzung und ausgewogenem Feedback.

Entscheidend für diesen Prozess waren Schutzräume und Menschen, die mich ermutigten, mich mehr zu erkennen. Es war nicht immer ein einfacher Prozess, aber rückblickend möchte ich diesen Weg nicht missen. Mehr noch: ich gehe ihn immer weiter.

Neben diesen Parallelen in der Lehrkräftebildung und Schultransformation wird bei näherer Betrachtung deutlich: Es braucht einen systemischen Blick, um Biografiearbeit in der Transformation von Institutionen zu nutzen. Jede Institution prägt die Menschen durch ihre „Geschichte.“

Von der Person zur Institution – systemische Biografiearbeit

Ein signifikanter Unterschied wird deutlich. Biografiearbeit in der Lehrkräfteausbildung richtet den Fokus auf die prägenden Ereignisse in der Lebensgeschichte des Einzelnen. Im Rahmen von Schulentwicklungs- und Schultransformationsprozessen gilt es aber auch die institutionellen und kollektiven Einflüsse der Schule in den Blick zu nehmen.

Die jahrelange Arbeit im Team, die Vorgaben der Schulbehörde oder die Zusammenarbeit mit Eltern in den Gremien hinterlassen sowohl bei jedem Einzelnen als auch im Kollektiv biografische Spuren. Mit anderen Worten: Ein systemischer bzw. multiperspektiver Blick auf die Geschichte der Organisation und seiner Mitglieder ist hierbei unerlässlich. Einige Beispiele können das verdeutlichen:

  • Wie konstruktiv und lösungsorientiert wird die Arbeit in Arbeitsgruppen oder Konferenzen erlebt?
  • Wird die allgemeine Atmosphäre als offen und zugewandt wahrgenommen oder werden abweichende Meinungen selten zugelassen bzw. mit wenig Interesse begegnet?
  • Wird den Schülern Vertrauen entgegengebracht und ihnen Raum gegeben, Verantwortung zu übernehmen oder herrscht eher Misstrauen und Sorge vor?
  • Aber auch: Welche institutionellen (übergeordneten) Vorgaben und Sichtweisen prägen den Alltag, herrscht z.B. hoher Zeitdruck aufgrund vieler administrativer Vorgaben?

Ich bin überzeugt: Echter Wandel beginnt immer im Inneren – und speist sich von dort in den äußeren Transformationsprozess ein. Die Frage ist daher nicht mehr, ob Biografiearbeit in der Schulentwicklung wirkt, sondern wie sie kraftvoll umgesetzt werden kann.

In späteren Artikeln werde ich mich der systemischen Dimension von Biografiearbeit im Rahmen von Transformationsarbeit widmen und auch Umsetzungsbeispiele geben.

Einladung zur Diskussion

Teilen Sie meine Einschätzung zur Relevanz von Biografiearbeit in der Schulentwicklung? Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht oder arbeiten bereits mit biografischen Ansätzen? Wie gehen Sie damit um, dass nachhaltige Transformation breitgefächert funktionieren muss und nicht an einzelnen Personen hängen darf? Ich freue mich auf Ihre Gedanken und den Austausch über diese Fragen.

Quellen

Helsper, Werner (2018). Vom Schülerhabitus zum Lehrerhabitus – Konsequenzen für die Schülerprofessionalität. In Tobias Leonhard, Julia Košinár & Christian Reintjes (Hrsg.), Praktiken und Orientierungen in der Lehrerbildung. Potentiale und Grenzen der Professionalisierung (S. 17-40). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hessisches Kultusministerium (2022). Kerncurriculum für den pädagogischen Vorbereitungsdienst.

Košinár, Julia (2024). Von der Bedeutung biografischer Erfahrungen und der Phasenspezifik beim Studieneintritt. Eine Rekonstruktion von Studierendentypen. In Marlene Kowalski et al. (Hrsg.), Professionalisierung in der Studieneingangsphase der Lehrer:innenbildung. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde (S. 185-206). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. 

Lindmeier, Christian (2005). Was soll und was kann Biographiearbeit leisten? In LfB Lebensräume für Menschen mit Behinderung gGmbH (Hrsg.), Was soll und was kann pädagogische Biografiearbeit leisten? Dokumentation der Fachtagung vom 30.08.2005 (S. 9-20). Berlin.

Miethe, Ingrid (2011). Biografiearbeit: Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim/München: Juventa-Verlag

Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2021). Kerncurriculum für die Lehrerausbildung im Vorbereitungsdienst. Verbindliche Zielvorgabe der schulpraktischen Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen.

Pajares, Manuel Francisco (1992). Teachers‘ Beliefs and Educational Research: Cleaning Up a Messy Construct. Review of Educational Research, 62(3), 307–332. 

Roth-Vormann, Manuela & Klenner, Denise (2019). Biografiearbeit in der Lehrer*innenbildung. Ein methodischer Input für die Praxisreflexion mit Lehramtsstudierenden: „Wie bin ich geworden, wer ich bin?“. DiMawe – Die Materialwerkstatt, 1(1), 53–59.

Ruhe, Hans Georg (2014). Praxishandbuch Biografiearbeit. Methoden, Themen und Felder. Weinheim: Beltz Juventa.

Terhart, Ewald (2011). Lehrerberuf und Professionalität: Gewandeltes Begriffsverständnis – neue Herausforderungen. In Werner Helsper & Rudolf Tippelt (Hrsg.), Pädagogische Professionalität (S. 202-224). Weinheim: Beltz. (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 57)

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